Hand-Werk ist Kopf-Werk!

– Rede von Dr. Kristina Bake – Kunsthistorikerin, Dozentin des Kompetenzzentrum „Gestalter im Handwerk“- anlässlich der Zeugnisverleihung des zweiten Fortbildungskurses „Gestalter im Handwerk“ im Künstlerhaus 188 am 4. Juli 2014 –

 

„Liebe Gestalterinnen und Gestalter im Handwerk,

es ist wahrlich nicht der eleganteste Einstieg in eine Rede, aber ich kann es nur so sagen: Wie Ihr längst wisst, beneide ich − eine Geisteswissenschaftlerin − Euch um Eure handwerklichen Fähigkeiten, um die Fähigkeit, mit Euren Händen konkrete Gegenstände schaffen zu können.

Ihr könntet in ein fremdes Land gehen, das eigene Werkzeug mitnehmen oder vielleicht ähnliches dort bekommen und anfangen zu arbeiten. Nach entsprechender Zeit wäre das Resultat Eurer Mühen zu sehen, könnte begutachtet werden, würde eine Verständigung mit Gleichgesinnten ermöglichen, ohne dass man unbedingt deren fremde Sprache sprechen müsste.

Das Praktische verbindet. Die Ergebnisse sind sichtbar.

So schrieb schon der um 1400 lebende Maler Cennino Cennini in seinem Buch über die Kunst: „Wenn du die Hand bei der Arbeit und Praxis siehst, wird es dir deutlicher sein, als wenn du es geschrieben siehst.“[1]

Wohl wahr! Als ich mich neulich bemühte, zu lernen, einen Korb aus Stroh zu flechten, kam meine alte italienische Lehrerin mit ihren Erklärungen nicht weiter, aber durch das Beobachten begriff ich allmählich, worauf es bei dieser Arbeit ankommt, die sie seit ihrer Kindheit verrichtet.

Es ist das Sinnliche des Produktes als auch des Arbeitsprozesses, was mich so fasziniert, dass ich mich immer wieder mit den handwerklichen Aspekten der Kunst beschäftige. Denn auch Kunst ist – für mich im besten Falle – Handwerk.

Hand-Werk. Das Werk der Hände.

So stecken in Eurer grundlegenden Berufsqualifizierung die beiden großen Begriffe: „Hand“ und „Werk“, die seit der Antike immer wieder zu philosophischen Betrachtungen über das Wesen des Menschen und seine Arbeit veranlassten.

Körperliche Arbeit, denn das ist Handarbeit, wurde im christlichen Weltbild lange Zeit ausschließlich negativ beurteilt: Als Folge der Ursünde mussten sich die Menschen hinfort durch körperliche Arbeit ernähren. „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen.“ (1. Mose, 3, 19)

Erst im 12. Jahrhundert, also noch vor Cennino Cennini, der sowohl Maler als auch Verfasser eines Buches war, kam mit der Wiederentdeckung der antiken Philosophen eine andere Denkweise auf: In der Handarbeit wurde jetzt die Basis für die Künste und Wissenschaften gesehen. Der Philosoph Bernard Silvestris charakterisierte im 12. Jahrhundert die Handarbeit als Fortsetzung des göttlichen Schöpfungswerks. So spricht Gott im Buch Jesaja vom „Werk meiner Hände“: „Ich habe die Erde gemacht und den Menschen darauf geschaffen. Ich bin’s, dessen Hände den Himmel ausgebreitet haben.“ (Jesaja 35, 11 und 12)

Jede von Euch hat schon mal eines dieser herrlichen Bilder gesehen, auf denen die göttliche, die rechte Hand sich machtvoll aus den Wolken streckt und auf die Erde verweist. Die Hände sind Mittel der Kommunikation, aber auch das Werkzeug unserer Gedanken. Ohne die Hände wäre es so gut wie unmöglich, im Mindesten aber schwer, Ideen und Gedanken in sichtbare Realität umzusetzen.

Albertus Magnus, Bischof und Gelehrter im 13. Jahrhundert sowie Kenner der Schriften des vorchristlichen Philosophen Aristoteles, charakterisierte die Hand „als potentiell universales Instrument“ des Menschen, sie ist die „Entsprechung seines „potentiell universalen Verstandes, und sie bringe dessen Einsichten geradezu unabwendbar nach außen.“[2] Denn, „wenn jemand ausdrücken will, was er in seinem Innersten versteht, kann er kaum die Hand zurückhalten, weil die Hand so sehr dem Verstand gehört, dass sie auf natürliche Weise die Werke sichtbar machen will, die er in seinem Geist empfangen hat.“[3]

Nur wenige Jahrhunderte nach der philosophischen Aufwertung des Handwerks bemühen sich wiederum herausragende Künstler der Renaissance wie Michelangelo um eine Befreiung des Künstlerischen vom Handwerklichen, ganz konkret von den Einengungen, welche die Zünfte ihnen auferlegten, Kunst wird zunehmend in der Sphäre des Geistigen verankert, das als höherwertig empfunden wurde.[4]

Seitdem ist diese Differenzierung von Kunst und Handwerk geblieben. Schubkastendenken eigentlich. Wie sagte aber Albertus Magnus: Die Hand macht sichtbar, was im Geiste vorhanden, aber noch nicht sichtbar ist. Das kann ein Text sein oder eine Skulptur oder ein Schrank.

Die Hände geben den Ideen Gestalt. Und wie viele Ideen kommen nicht zum Ausdruck, weil es an den handwerklichen Mitteln fehlt, die Gedanken in die Tat, in ein Resultat umzusetzen.

Seit der Industrialisierung aber steht das Handwerk auch wieder für das Ideal eines Menschen, der gleichermaßen mit Kopf und Händen arbeitet.[5] Der Meister, der im besten Fall sein Produkt im gesamten Entstehungsprozess − vom Auftrag über den Entwurf und dessen Realisierung bis zur Auslieferung − begleitet, muss gleichermaßen theoretisch und praktisch, geistig und körperlich arbeiten. Beides muss er gelernt haben.

Das wisst Ihr selbst am besten: Ständig müsst Ihr Probleme lösen, die mit einem Auftrag verbunden sind. Ihr müsst Lösungen für eine spezifische Situation finden oder Ideen entwickeln für Wünsche, die Eure Kunden mehr oder weniger genau oder auch gar nicht beschreiben können. Es ist Euer tägliches Brot, Ideen zu entwickeln und umzusetzen für individuelle Personen, welche sich dann bis zu ihrem Lebensende an Eurer Gestaltung erfreuen. Die – ebenso wie Ihr bei der abschließenden Prüfung Eurer Arbeit – täglich aus Freude am Gegenstand mit der Hand über eine glatte oder strukturierte Oberfläche aus Holz, Stein oder Stoff streichen. Diese Erfahrung des Fühlens geht als Erfahrung in das Bewusstsein ein und prägt solcherart den Geist.

Das Nützliche verbindet sich in Euren Arbeiten oft mit dem Schönen. Beide Kategorien gehen bei einer gelungenen Gestaltung eine ideale Verbindung ein.

Gestaltendes Hand-Werk ist eben auch Kopf-Werk.

Dazu kommt der Kerngedanke des Handwerks: Die Qualität, die sich gleichermaßen im Entwurf als auch im Material und seiner Verarbeitung beweist.

Qualität ist eine Kategorie, die seit der Massenproduktion und -konsumtion immer entscheidender wird und das Überleben von Gewerken mitentscheidet. Der Wandel, der in der Produktion von Gütern seit etwa 150 Jahren stattfindet, hat sich in den letzten Jahren im Zuge der Globalisierung extrem verschärft.

Und Ihr steckt mittendrin. In den Problemen, die gleichzeitig aber auch neue Chancen bieten. Denn die Kehrseite der Globalisierung und Internationalisierung der Märkte ist der stärker werdende Wunsch nach Identität, Regionalität, Nachhaltigkeit und Ökologie. Nach Individualität. Und all das muss im besten Fall auch noch bezahlbar sein!

Mittlerweile werden handwerkliche Techniken von quasi „lebenden Objekten“ im Museum präsentiert, um sie vor dem Vergessen zu bewahren. Die Besucher staunen über die Fingerfertigkeit der Handwerker, empfinden das Gesehene aber oft auch als veraltet, denn meistens werden nur die traditionell überlieferten Formen produziert. Das ist sicherlich eine Möglichkeit, Wissen zu konservieren, aber das ist nicht Euer Weg, denn wie schon Thomas Morus (1478-1535) feststellte: „Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme.“

Handwerk ist nichts Vergangenes. Die besten Gestaltungen waren immer die innovativen Leistungen, die neue Lösungen präsentierten, indem sie zum Beispiel eine moderne Formensprache entwickelten oder neuen Materialien zu nutzen verstanden.

Ihr habt alles, was man dazu braucht: die handwerkliche Erfahrung und den gestaltenden Geist. Die Probleme, vor denen Ihr als Gestalter steht, sind überall auf der Welt gleich.

Gewerke verschwinden, weil es keine Nachfrage gibt, weil in anderen Länder niedrigere Standards bei Umweltschutz und Arbeitsrecht herrschen und somit billiger produziert werden kann oder weil die Produkte in Zeiten des Massenkonsums so kurzlebig sind wie die Moden.

Aber hier hilft nur eins: Mit dem Stolz dessen, der sein Gewerk versteht, Haltung zu zeigen. Denn Handwerk gehört eben nicht ins Museum, ist keine romantische Verklärung überholter Formen, sondern wie es in einem Buch über das Handwerk in Venedig heißt: „ein Wagen der Neuerungen und ein Sich-Anpassen an den aktuellen, den echten Bedarf der Gesellschaft.“[6]

Ihr habt mit sehr viel Kraftaufwand in den vergangen zwei Jahren im Rahmen dieser Qualifizierung Eure Fähigkeit, Dinge so herzustellen, dass sie wirklich gut sind, geschult. Die Objekte, die Ihr herstellt, sagen etwas über Euch aus, denn Ihr gebt den Dingen ihre Form. Sie zeugen von Eurem Ideenreichtum und Eurem Geschick. Der eine ist vielleicht mehr Techniker, die andere mehr Künstlerin in ihrer Herangehensweise.

Mit Sicherheit zeichnet Euch auch Eure Hartnäckigkeit aus. Damit meine ich nicht nur das Durchhalten dieser Ausbildung, die Ihr neben Eurer täglichen Arbeit absolviert habt, sondern auch die grundsätzliche Einstellung eines Handwerkers oder Gestalters (der Begriff tut hier nichts zur Sache) zu seiner Arbeit.

Mir gefällt immer die Geschichte des amerikanischen Architekturhistorikers Witold Rybszynski, der von dem Maurer erzählte, welcher die eingestürzte Mauer in seinem Garten nur reparieren sollte, aber darauf beharrte, dass der Wiederaufbau ein Fundament benötige: „Ich fragte, ob das nicht zusätzliche Kosten verursache. Ja, antwortete er, aber wenn er es nicht mache, würde die Mauer in 50 Jahren wieder absacken. Seine unverkennbare Überzeugung machte mir klar, dass es über diese Frage kein Diskutieren gab: So musste es gemacht werden.“[7]

Es ist diese aus Erfahrung resultierende Hartnäckigkeit, die Euch auszeichnet. Nicht zu verwechseln mit sinnlosem Beharren!

Ich glaube zu wissen, dass eine von Euch gebaute Mauer in 50 Jahren noch stehen würde. Außerdem wäre sie speziell für diesen Garten geschaffen worden und unter Berücksichtigung aller Gegebenheiten würde sie sich in Form und Material der Umgebung einfügen. Sie würde funktionalen und ästhetischen Ansprüchen genügen. Und ihr Besitzer würde täglich mit Augen und Hand darüber streichen, glücklich ob seiner Entscheidung.

Ich glaube, Ihr würdet es im Idealfall so machen, wie Ihr es aus Erfahrung und Überzeugung richtig findet. Das ist der Anspruch, mit dem man arbeiten sollte. Ich bin mir sicher, das ist es, was Qualität auszeichnet.

Oder wie es der Soziologe und Kulturphilosoph Richard Sennett sagt: Es geht darum, eine Arbeit um ihrer selbst willen gut zu machen.[8]

Und damit Haltung zu zeigen.

Beim Nachdenken über Eure Arbeit habe ich auch etwas über mein Handwerk – das Handwerk einer Geisteswissenschaftlerin – gelernt, denn das verbindet im besten Fall Gestalter im Handwerk, Handwerker und Geisteswissenschaftler: Der Anspruch, eine Arbeit um ihrer selbst willen gut zu machen.

Wir alle wissen, dass der einzige Lohn dafür oft nur in dem berechtigten Stolz auf das Ergebnis liegt. Aber trotzdem halten wir an unserem Anspruch fest, für eine Aufgabe – sei es ein praktischer Auftrag oder ein theoretisches Problem – eine Lösung zu finden, die in unseren eigenen Augen Bestand hat.“

 

Quellen:

[1] Cennino Cennini, Libro dell’arte o trattato della pittura. Zitiert nach: Löhr, Wolf-Dietrich, Handwerk und Denkwerk des Malers. Kontexte für Cenninis Theorie der Praxis. In: Löhr, Wolf-Dietrich / Weppelmann, Stefan (Hg.), Fantasie und Handwerk. Cennino Cennini und die Tradition der toskanischen Malerei von Giotto bis Lorenzo Monaco. Kat. Staatliche Museen zu Berlin Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Berlin 2008, S. 153-168, S. 164.

[2] Löhr, Wolf-Dietrich, a.a.O., S. 154.

[3] Albertus Magnus, Quaestiones de animalibus. Zitiert nach : Ebd.

[4] Siehe dazu: Conti, Alessandro, Der Weg des Künstlers. Vom Handwerker zum Virtuosen. Berlin 1998.

[5] Zur Arbeits- bzw. Produktionsschule, einem zentralen Anliegen der Reformpädagogik, siehe: Bake, Kristina, Die Freiland-Siedlung Gildenhall. Kunsthandwerk, Lebensreform, Sozialutopie. Frankfurt am Main u.a. 2001, S. 99-101.

[6] So Jana Revedin bei der Präsentation ihres Buchs: Altes Handwerk in Venedig. Die Lagunenstadt neu entdeckt. Wien 2013.

[7] Rybszynski, Witold, Das vollkommene Haus. Eine Reise mit dem italienischen Renaissance-Baumeister Andrea Palladio. Berlin 2004, S. 290.

[8] Sennett, Richard, Handwerk. Berlin 2008, S. 19.